Mehr als nur bunte Smartboards: Wie wirksam ist unser Unterricht wirklich? Und was hat Scrum damit zu tun?

Hand aufs Herz: Nach Jahren an der Uni und vielleicht schon einigen (oder sogar vielen!) im Klassenzimmer, fragen wir uns doch immer wieder: Was von dem, was wir täglich tun, kommt bei unseren Schüler*innen eigentlich wirklich an? Und gibt es vielleicht Wege, unseren Unterricht noch wirksamer zu gestalten, ohne uns dabei komplett aufzureiben?
Als jemand, der sich seit nunmehr fast einem Jahrzehnt intensiv mit agilen Methoden wie Scrum in unterschiedlichsten Lernsettings auseinandersetzt, und als überzeugter Anhänger evidenzbasierter Unterrichtsansätze, möchte ich heute eine Brücke schlagen zwischen diesen beiden Welten – und euch vielleicht zu einigen unerwarteten Aha-Momenten verhelfen.
Die harte Wahrheit (mit viel Lichtblicken): Hattie, Evidenz und die „Lean“-Denke
Wahrscheinlich ist euch der Name John Hattie schon einmal untergekommen. Seine „Visible Learning“-Studien haben tausende von Forschungsarbeiten zusammengefasst und zeigen uns ziemlich deutlich, welche Faktoren im Unterricht wirklich einen großen Unterschied machen – und welche eher „nice to have“ sind. Überraschungen inklusive! Wusstet ihr zum Beispiel, dass die Erwartungen, die Schüler*innen an sich selbst haben (Selbstberichtete Noten, ES* = 0.96), inen enormen Einfluss auf ihren Erfolg haben? Oder dass klares Feedback vom Lehrer (Lernfeedback, ES = 0.63) Gold wert ist?
Der Punkt ist: Es gibt eine solide wissenschaftliche Basis dafür, was im Unterricht funktioniert. Und genau hier setzt das Buch „The Lean Education Manifesto“ von John Hattie und Arran Hamilton an. Es argumentiert leidenschaftlich für eine radikale Überprüfung unserer Bildungspraktiken, insbesondere im Hinblick auf Effizienz und Wirkung. Die Autoren fordern uns auf, das Dogma „mehr ist besser“ zu hinterfragen – mehr Geld, mehr Technologie, mehr Unterrichtsstunden führen nicht automatisch zu besseren Lernergebnissen. Stattdessen plädieren sie für einen „Lean“-Ansatz, inspiriert aus der Wirtschaft, der sich darauf konzentriert, „was wirklich funktioniert“ und „was unnötiger Ballast ist“.
Ein Schlüsselargument des Manifests ist die Notwendigkeit, „Sackgassen“ zu identifizieren – gut gemeinte, aber wenig wirksame oder ineffiziente Maßnahmen, die Ressourcen binden. Stattdessen sollen wir uns auf hochwirksame Faktoren konzentrieren und diese konsequent implementieren und skalieren. Das „Leaning to G.O.L.D.“ Framework bietet hierfür eine mögliche Struktur.
Scrum? Das ist doch was für IT-Nerds, oder?
Als jemand, der seit fast zehn Jahren mit agilen Methoden wie Scrum in unterschiedlichsten Lernkontexten – von Projektarbeiten in der Oberstufe bis hin zu selbstorganisierten Lernphasen – arbeitet, kann ich euch sagen: Scrum ist viel mehr als nur ein Werkzeug für Softwareentwickler. Im Kern geht es um iteratives Vorgehen, klare Ziele, enge Zusammenarbeit und kontinuierliche Verbesserung durch regelmäßiges Feedback und Reflexion. Kommt euch das nicht irgendwie bekannt vor im Kontext von gutem Unterricht?
Meine anfängliche Skepsis wich schnell der Erkenntnis, dass die Prinzipien von Scrum erstaunliche Parallelen zu den Erkenntnissen der Lernforschung aufweisen. Es ist, als ob die agile Welt unbewusst viele der Stellschrauben bedient, die Hattie und seine Kollegen als hochwirksam identifiziert haben.
Wie Scrum Hatties „Big Hitter“ im Klassenzimmer verstärken kann:
Lasst uns konkreter werden und schauen, wie Scrum einige der wirkungsvollsten Faktoren aus Hatties „Visible Learning“ in unserem Unterricht verstärken kann:
(in Klammer steht immer der von Hattie
- Rückmeldung (Feedback, ES = 0.63): Das Herzstück von Scrum sind die regelmäßigen Sprint Reviews. Hier präsentieren die Lernteams ihre Arbeitsergebnisse und erhalten direktes, konkretes Feedback von uns als Lehrpersonen und idealerweise auch von ihren Peers. Dieses zeitnahe und spezifische Feedback ist genau das, was Hattie als einen der größten Hebel für Lernerfolg identifiziert hat. Es hilft den Schüler*innen, ihren aktuellen Stand zu verstehen und konkrete Schritte für die Weiterentwicklung abzuleiten.
- Metakognitive Strategien (Metakognitive Strategien, ES = 0.52): Die Sprint Retrospektive ist ein Goldstück in dieser Hinsicht. Hier reflektieren die Lernteams explizit, wie sie gelernt und zusammengearbeitet haben. Was lief gut? Was nicht? Was können wir für den nächsten Sprint verbessern? Diese bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Lernprozess fördert Selbstregulation und das Verständnis für effektive Lernstrategien.
- Klare Lernziele (Angemessen herausfordernde Lernziele, ES = 0.60): Jeder Sprint in Scrum hat ein klar definiertes Sprintziel. Dieses Ziel gibt den Schülerinnen eine klare Ausrichtung für ihre Arbeit in dieser Phase. Dies entspricht Hatties Betonung der Bedeutung klarer Lernziele, die den Schülerinnen Orientierung geben und ihnen helfen zu verstehen, was sie eigentlich lernen sollen.
- Selbstwirksamkeit (Selbstwirksamkeit, ES = 0.67): Erfolgreich abgeschlossene Sprints, in denen die Teams gemeinsam ein konkretes Ergebnis erzielt haben, stärken das Vertrauen der Schüler*innen in ihre eigenen Fähigkeiten. Sie erleben, dass sie durch ihre Anstrengung und Zusammenarbeit etwas erreichen können.
- Kooperatives Lernen (Kooperatives Lernen, ES = 0.40): Scrum ist per Definition Teamarbeit. Die Schüler*innen sind in kleinen, selbstorganisierenden Teams organisiert und müssen zusammenarbeiten, um die Sprintziele zu erreichen. Dies fördert nicht nur soziale Kompetenzen, sondern auch das voneinander Lernen.
- Fortschrittskontrolle (Monitoring des Schülerfortschritts, ES = 0.66): Das Sprint Backlog und optionale Burndown Charts visualisieren den Fortschritt des Teams. Dies hilft den Schüler*innen, ihren eigenen Beitrag zum Teamerfolg zu sehen und den Gesamtfortschritt zu verfolgen.
- Selbstberichte zum eigenen Leistungsniveau ES = 0.96): Indem Scrum Transparenz über Ziele und Fortschritt schafft und Schüler*innen aktiv in den Lernprozess einbezieht, kann es ihr Verständnis für ihre eigenen Lernfortschritte und damit ihre Erwartungen an sich selbst positiv beeinflussen.
- Lehrererwartungen (Lehrererwartungen, ES = 0.42): Obwohl die Effektstärke hier etwas geringer ist, ist es wichtig zu betonen, dass die positive und strukturierte Herangehensweise von Scrum auch unsere Erwartungen an die Leistungsfähigkeit unserer Schüler*innen positiv beeinflussen kann. Wenn wir sehen, wie sie in selbstorganisierten Teams Verantwortung übernehmen und Ergebnisse erzielen, kann das unsere Überzeugung von ihrem Potenzial stärken.
- Kognitive Aufgabenanalyse (Kognitive Aufgabenanalyse, ES = 1.29): Die Zerlegung komplexer Lernaufgaben in kleinere, überschaubare „User Stories“ im Sprint Backlog ähnelt der kognitiven Aufgabenanalyse. Es hilft den Schüler*innen, die einzelnen Schritte und Denkprozesse zu verstehen, die zur Lösung einer Aufgabe notwendig sind.
- Anstrengung (Kontrolle der Lernanstrengung, ES = 0.77): Die klaren Ziele und die Notwendigkeit, als Team in einem Sprint etwas zu erreichen, können die Motivation und den Einsatz der Schüler*innen fördern. Sie erleben direkter, wie ihre Anstrengung zu Ergebnissen führt.
- Zeitmanagement und Organisation werden von Hattie nicht direkt als Faktoren angegeben, aber die zeitlich Begrenzung der Sprints und die Notwendigkeit der Planung (Planen und Vorhersagen, ES = 0,83) innerhalb der Sprints unterstützen implizit die Entwicklung dieser Fähigkeiten.
Die „Lean“-Brille: Weniger ist manchmal mehr
Hier schließt sich der Kreis zum „Lean Education Manifesto“. Indem wir uns auf die Prinzipien von Scrum konzentrieren – klare Ziele, kurze Feedbackzyklen, kontinuierliche Verbesserung und die Eliminierung von „Überflüssigem“ im Lernprozess – können wir unseren Unterricht effizienter und wirkungsvoller gestalten. Wir verschwenden weniger Zeit und Energie auf ineffektive Praktiken und fokussieren uns stattdessen auf das, was nachweislich einen positiven Einfluss auf das Lernen unserer Schüler*innen hat.
Meine Erfahrung aus zehn Jahren Scrum in verschiedenen Lernsettings zeigt: Es ist kein Allheilmittel, aber es ist ein unglaublich wertvolles Werkzeug, um die Art und Weise, wie wir lernen und lehren, grundlegend zu verändern. Es erfordert Mut zur Veränderung, Experimentierfreude und die Bereitschaft, Kontrolle abzugeben. Aber die potenziellen Gewinne – engagiertere Schüler*innen, bessere Lernergebnisse und ein erfüllenderer Unterricht für uns alle – sind enorm.
Euer nächster Sprint?
Ich lade euch ein, darüber nachzudenken: Welche Elemente von Scrum könnten in eurem Unterricht, in euren Fächern und Klassen, einen Unterschied machen? Wo seht ihr Potenzial, den Fokus stärker auf Feedback, klare Ziele und kollaboratives Lernen zu legen? Welche „ineffektiven“ Routinen könnten wir im Sinne des „Lean“-Gedankens hinterfragen und reduzieren?
Lasst uns diesen Dialog fortsetzen. Teilt eure Ideen, eure Bedenken und eure Erfahrungen in den Kommentaren. Gemeinsam können wir Wege finden, unseren Unterricht noch wirksamer und erfüllender zu gestalten – basierend auf solider Evidenz und innovativen Ansätzen.
* ES = Effektstärke (Detaillierte Erklärungen zur Effektstärke findest du hier)
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