Vom CO2-Detektiv zum KI-Agenten

von | Okt. 10, 2025 | CO2-Footprint, Grünes Netz, Klimawandel, Nachhaltigkeit | 0 Kommentare

 (Wie wir den Corporate Carbon Footprint automatisieren – ohne Black Box

Ich erinnere mich noch gut an das erste Mal, als ich gebeten wurde, den CO?-Fußabdruck eines Unternehmens zu berechnen. Ich saß da mit einem Berg von Rechnungen, Tabellen, PDFs, E-Mails – und einer nagelneuen Excel-Datei namens „CCF_2023_final_v8_really_final.xlsx“.

Wenn du schon mal versucht hast, Emissionen auf Basis von Einkaufsdaten zu bestimmen, weißt du, wie schnell dieser Job zur Detektivarbeit wird. Du jagst nach kWh-Werten, suchst Herkunftsnachweise für Ökostrom, versuchst herauszufinden, ob ein Flug Economy oder Business war. Und am Ende bleibt oft nur ein Schätzwert – mit Sternchen und Bauchgefühl.

Damals wurde mir klar: Wenn wir Klimaberichte ernst nehmen wollen, brauchen wir etwas anderes. Kein Flickwerk aus Tabellen. Kein Orchester aus Copy-Paste-Aktionen. Sondern ein System, das aus Daten echte Entscheidungen macht. Schnell. Belastbar. Und so transparent, dass es auch im Ernstfall vor einer Wirtschaftsprüfung Bestand hat.

Heute möchte ich dir erzählen, wie wir genau das bauen.

Der Moment, in dem wir wussten: So geht’s nicht weiter

Die Initialzündung kam in einem Projekt mit einem mittelständischen Tech-Unternehmen. Das Ziel war klar: einen vollständigen, prüfbaren Corporate Carbon Footprint zu erstellen. Doch schnell wurde deutlich, dass wir an vielen Fronten kämpfen:

Lieferanten lieferten unvollständige Daten. Rechnungen kamen in allen denkbaren Formaten. Niemand wusste, ob der genutzte Emissionsfaktor noch aktuell war. Und das Team verbrachte Tage damit, Stromverträge zu lesen, Kilometerangaben zu vergleichen und dieselverbrauchende Notstromtests zu dokumentieren.

Einen besonders prägnanten Moment werde ich nie vergessen. Ein Kollege starrte auf einen PDF-Scan einer Rechnung und sagte:
„Wenn ich noch einmal versuchen muss, die kWh-Zahl hier rauszufinden, kündige ich.“

Das war der Punkt, an dem wir beschlossen haben: Wir bauen ein System, das das für uns übernimmt.

Was wäre, wenn eine KI all das versteht?

Wir begannen, uns vorzustellen, wie ein solches System aussehen müsste. Es sollte nicht nur Belege lesen, sondern sie verstehen. Es sollte erkennen, ob ein Dokument eine Stromrechnung oder eine Serverbestellung ist. Es sollte erfassen, ob es sich um eine reale Verbrauchsmenge handelt – oder nur um einen Preis.

Noch wichtiger: Es sollte den Unterschied kennen zwischen einer kWh, einer Tonne, einem Stück – und erkennen, was davon tatsächlich emissionsrelevant ist.

Und dann sollte es automatisch den passenden Emissionsfaktor finden – nicht einfach irgendeinen, sondern den besten verfügbaren: basierend auf Stromtarif, Anbieterregion, Nutzungskategorie oder Branchenwert.

Am Ende sollte ein Bericht herauskommen, der nicht nur korrekt aussieht, sondern auch nachvollziehbar ist. Jede Zeile müsste auf den Originalbeleg zurückführbar sein. Jede Schätzung müsste eine Begründung und eine Unsicherheitsangabe haben.
Kein Rätselraten. Keine Black Box. Keine Ausreden.

Der Aufbau unseres KI-gestützten Systems

Der erste Prototyp war chaotisch, aber vielversprechend. Wir nutzten vorhandene KI-Modelle, trainierten sie auf echten Belegen, testeten verschiedene Ansätze für OCR und semantische Zuordnung.
Ein großer Durchbruch war das Matching mit einem RAG-System (Retriever-Augmented Generation) – ein KI-Verfahren, das Positionstexte mit passenden Emissionsfaktoren verknüpft, nicht einfach nach Schlagworten, sondern nach Bedeutung.

So erkannte das System zum Beispiel, dass „19× 1U-Server, 12 kg je Stück“ zur Kategorie „Capital Goods – Scope 3.2“ gehört – und schlug automatisch einen faktorisierten Wert auf Materialbasis vor.

Und wenn ein Beleg unklar war? Dann trat unser Human-in-the-Loop-Mechanismus in Kraft. Menschen prüfen, ergänzen, korrigieren – und das System lernt mit.

Was wir gebaut haben, war keine Allzwecklösung, sondern ein praktischer Assistent für Nachhaltigkeitsteams. Kein Zauberstab, sondern ein Werkzeug. Und das mit einem klaren Ziel: den Corporate Carbon Footprint automatisiert, auditierbar und erklärbar zu machen.

Eine Geschichte aus dem Alltag

Anna ist Nachhaltigkeitsmanagerin bei einem KMU mit etwa 120 Mitarbeitenden. Ihre Aufgabe: Den CO?-Fußabdruck des Unternehmens für das Jahr 2025 aufbereiten. Früher hätte sie Wochen gebraucht, allein um die Verbrauchswerte aus verschiedenen Abteilungen zusammenzutragen. Heute loggt sie sich ins System ein. Das System hat sich mit der Buchhaltung verbunden und Rechnungen automatisch eingesammelt – Strom, Hardware, Reisen, Dienstleistungen. Die KI erkennt jede Rechnung, liest die Verbrauchsdaten aus, weist die Emissionen zu – und sagt offen, wenn sie sich bei einem Wert nicht sicher ist.

Bei einer Rechnung fehlt der PUE-Wert? Kein Problem – das System schlägt eine Schätzung vor und markiert sie gelb.
Ein Reisebeleg zeigt „VIE ? FRA, Return, 2 Pax, Economy“? Der passende Faktor wird automatisch zugeordnet – samt Angabe zur Streckenklasse und einem RFI-Wert für Flüge.

Am Ende erhält Anna einen Bericht, in dem jeder Wert erklärbar ist. Jeder Posten ist zurückverfolgbar. Und alles ist bereit für das nächste ESG-Audit.

Warum wir das nicht einfach „Automatisierung“ nennen

Das Wort Automatisierung klingt oft nach einem Versprechen, das zu schön ist, um wahr zu sein.
„Du brauchst nur auf einen Knopf zu drücken – und alles läuft von selbst.“
So einfach ist es nicht. Und so soll es auch nicht sein. Was wir stattdessen bauen, ist ein kooperatives System. Es erledigt das, was Maschinen gut können: strukturieren, rechnen, vergleichen, ableiten. Und es überlässt das, was Menschen besser können: bewerten, prüfen, entscheiden.

Wir glauben nicht an vollautomatisierte ESG-Reports ohne Verantwortung.
Wir glauben an pragmatische KI – mit Erklärbarkeit, mit Kontrolle, mit Datenschutz.

Warum Vertrauen wichtiger ist als Effizienz

Ein System, das Emissionen berechnet, muss vor allem eines sein: vertrauenswürdig. Nicht nur für die Berichtsverantwortlichen, sondern auch für externe Auditor:innen, Behörden und Stakeholder.

Deshalb bauen wir das System so, dass jede Schätzung begründet ist. Dass man jederzeit sagen kann:
„Dieser Wert basiert auf einer Rechnung vom 5.?Mai 2025, bei Lieferant X, mit Tarif Y, und wurde durch den Emissionsfaktor Z berechnet.“

Wir verwenden keine Black-Box-KI, die Ergebnisse ausspuckt, die niemand erklären kann. Stattdessen setzen wir auf hybride Ansätze: harte Regeln, ergänzt durch KI-Heuristik – mit der Möglichkeit, jederzeit einzugreifen. Nur so kann ein Nachhaltigkeitsbericht zu einem echten Steuerungsinstrument werden – und nicht zu einem reinen Pflichtdokument.

Was als Nächstes kommt

Wir stehen erst am Anfang. Die erste Produktversion läuft im Parallelbetrieb bei zwei KMUs. Die Resultate sind vielversprechend – nicht nur in Bezug auf Effizienz, sondern vor allem in Bezug auf Vertrauen, Rückverfolgbarkeit und interne Akzeptanz.

Doch mit jeder neuen Funktion kommen auch neue Fragen.

  • Wie schützen wir sensible Daten wirklich?
  • Wie verhindern wir, dass ein KI-Modell zu unbewussten Verzerrungen neigt?
  • Wie sorgen wir dafür, dass Entscheidungen fair, erklärbar und nachvollziehbar bleiben – auch wenn sie durch Algorithmen getroffen werden?

Diesen Fragen widmen wir unseren nächsten Beitrag:

„Datenschutz & Ethical AI: Wie wir sicherstellen, dass CO?-Automatisierung verantwortungsvoll bleibt.“

Verfügbar in Kürze!

Let’s talk!

Du willst dieses System in deinem Unternehmen testen oder Fragen zur Umsetzung klären? Kontaktiere uns. Wir sind offen für Pilotprojekte, Partnerschaften – oder einfach einen ehrlichen Austausch über das, was funktioniert, und das, was noch nicht.

Denn nur gemeinsam machen wir aus Klimabilanzierung mehr als eine Rechenaufgabe.

 

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