Wer hat sich die Frage nicht schon gestellt: „Wieso zahle ich für meinen täglichen Bio-Einkauf bei Hofer (Aldi in Deutschland und weltweit) etwa 1/3 weniger als im Bio-Supermarkt und gar nur die Hälfte im Vergleich zu einem Bio-Greisler?“ Es gab darauf schon bisher viele Antworten: günstigeres Vertriebskonzept, Großeinkauf, … doch irgendwie war alles nicht ganz schlüssig.
Ein weiterer Aspekt hat mich bei „Bio“ immer öfter gestört: Sowohl Verpackung, als auch Bewerbung der Produkte glichen immer mehr den konventionellen Produkten. Wer dieser Tage auf die Biofach in Nürnberg geht, der kann den Trend ganz eindeutig beobachten. Männer im Business-Anzug, Frauen gestylt wie aus dem Katalog. Mit langen Haaren und bunter Jacke kommt man sich dort wirklich verloren vor.
Bio-Marketing
Clemens G. Arvay gibt in seinem neuesten Buch „Der große Bioschmäh – wie uns die Lebensmittelkonzerne an der Nase herumführen“ klare Antworten auf viele offene Fragen. Wem ist es nicht schon aufgefallen? Bauernhofidylle mit freilaufenden Hühnern und sprechenden, glücklichen Schweinen in der Werbung und dann in tausenden Filialen die gleichen Produkte. Da fehlt doch irgendein Glied in der Kette. Die Antwort fällt sehr deutlich aus:
„Wir wollen den Eindruck des Retro-Bauerntums erwecken buy viagra 100mg. Mit Monokulturen und industriellen Mähdreschern spricht man niemanden an.“ Gleich darauf stimmt der Gesprächspartner, ein Werbefachmann, dem Autor des Buches zu, dass industrielle Mähdrescher und Monokulturen die Realität auch in der biologischen Agrarindustrie sind. Information sei nicht die Aufgabe der Marketing-Agenturen, ergänzt er dann noch ganz unverblümt. Warum verwundert mich das nicht. Es geht ja schließlich nur darum alles an möglichst viele zu verkaufen. Information hat auch mit Wahrheit zu tun. Kann man also sagen, dass auch die Wahrheit vermitteln nicht die Aufgabe der Marketing-Argenturen ist? Der Konsument ist dann nur noch ein potentielles Käufergehirn, schließt Arvay daraus. Das Zielpublikum für die Produkte sind DINKS (Double Income – No Kids). Menschen also, die viel Geld haben und den ganzen Tag dafür arbeiten sich alles leisten zu können. Die Bioernährung ist Teil dieser Philosophie. Die DINKS bekommen dann noch den Beinamen LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability). Ob diese Lebensform Zukunft hat? Wie sieht der Markt für solche Menschen („No Kids“!!) in 20-30 Jahren aus? In die Zukunft blicken ist also weder für die Marketing-Industrie noch für den „Biolandbau“ eine sinnvolle Strategie. Wir leben ja schließlich heute und nicht morgen!?
Die Kritik
Clemens G. Arvay betätigt sich für die Recherchen seines Buches als Detektiv. Offene Türen und Menschen, die frei und ungezwungen mit ihm sprechen findet er kaum. Er muss verdeckt ermitteln. Diese Herangehensweise an das Thema macht das Buch sehr spannend. Es werden Türen geöffnet in „geheime“ Welten, die man so nicht wirklich vermutet. Ein paar Beispiele aus dem Buch:
- In mehr als drei Viertel der Bioställe des Landes sind die Rinder während des Großteils ihres Lebens in Ketten gelegt
- Ihnen werden meist nur 1 bis 2 Stunden Auslauf vor dem Stall gegönnt (von Weide ist hier noch gar nicht die Rede)
- Während man in der konventionellen Eierproduktion sieben Hennen pro m² Stallfläche halten darf, sind es in der kontrolliert biologischen sechs
- Der vorgeschrieben Auslauf wird von den Hennen kaum genutzt, weil die Fläche hühnerfeindlich ist (exponiert und ohne Schutz durch Bäume und Sträucher)
- Zudem sind die Luken schon bei der kleinsten Verschmutzung draußen geschlossen, weil sonst die Eier schmutzig werden und sich nicht mehr so gut verkaufen lassen.
- …
Und immer wieder wird die Fehlinformation durch die Werbung für die Bioprodukte thematisiert. Da steht ein gewisser „Joe“ mit seiner Unterschrift als Bürge für die Qualität einiger natur*pur-Produkte von Spar gerade. Doch dieser „Joe“ weiß nur, wie es dazu kam, dass seine Unterschrift unter die Produkte gesetzt wurde: Irgendwann sei man mit dem Anliegen an ihn herangetreten. Es hieß, die Unterschrift solle auf die Verpackungen von Soja-Produkten gedruckt werden. Ob seine Sojabohnen in den Produkten verarbeitet seien, wisse er nicht. Das eigentlich Bemerkenswerte aber ist: Die Produkte, auf denen Joes Unterschrift ist, beinhalten zahlreiche andere wertgebende Rohstoffe als bloß Soja, schreibt Clemens G. Arvay.
Ein weiteres trauriges Kapitel ist der Transport und die Schlachtung von Tieren. Da werden männliche Küken gleich nach dem Entschlüpfen aus dem Ei durch das Todeskarussel geschickt, Hühner und Schafe industriell betäubt und geschlachtet und auch der Transport zum Schlachthof ist keineswegs tiergerecht. Vielfach werden Tiere aus biologischer Tierhaltung gemeinsam mit und auf die selbe Art und Weise wie solche aus konventioneller transportiert.
Weitere Beispiele im Buch reichen von Brot bis Gemüse und Obst. Das Resumee ist überall das Gleiche. Bei der Produktion werden zwar keine chemischen Keulen wie in der konventionellen Landwirtschaft eingesetzt. Sonst unterscheidet sich diese aber kaum vom Bio(TM)-Landbau, wie Arvay ihn bezeichnet. Der konventionelle Lebensmittelhandel sei an der Bio-Idee nur so lange interessiert, solange sie die Umsätze ordentlich angekurbelt. Unsere Supermarktkonzerne sind die Akteure, die regelrechten Verursacher der konventionellen Lebensmittelindustrie, nicht aber Verfechter des Ökolandbaus. Thilo Bode schreibt in seinem Buch „Die Essensfälscher“: „Mit dem, an sich erfreulichen, Bedeutungs- und Umsatzzuwachs des Marktes für Biolebensmittel wächst leider auch die Tendenz, den ursprünglichen Qualitätsanspruch von Bio zu verwässern und zu verraten.“
Die Alternativen
Bei soviel Kritik fragt man sich natürlich auch nach den Alternativen. Der Autor lässt einen auch da nicht unwissend zurück. Neben einem kurzen historischen Abriss über den ökologischen Landbau (bezeichnend hier auch der Unterschied zwischen Öko- und Biolandbau) werden Alternative Stimmen gehört und alternative Konzepte präsentiert. Menschen, die mit einer „Hühnerherde“ von 400 Stück ausreichend Einkommen haben, wo andere mit 10000 „Landwirtschaft“ nur im Nebenerwerb betreiben können. Menschen, die das direkte Gespräch mit ihren Kunden im Bio-Laden suchen und darin das beste Marketing sehen. Neben Lebensmittelkooperativen wird auch das Konzept der solidarischen Landwirtschaft, allgemein bekannt unter der Bezeichnung Community supported Agriculture (CSA), vorgestellt.
Mein Resumee
Das Buch von Clemens G. Arvay ist nicht nur sehr informativ, sondern liest sich sehr spannend von Anfang bis Ende. Die gezeigten Beispiele sind durch persönliche Recherchen und Besuche bei den betroffenen Betrieben belegt und zeigen deutlich, dass das Bild, das sich die biologische Agrarindustrie in der Öffentlichkeit in Form eines Retro-Bauertums selbst gibt, von der gelebten Praxis sehr weit entfernt ist.
Die Darstellung der Alternativen erinnert mich wieder an die Diskussion über LOHAS und LOVOS bzw. Öko 1.0 oder 2.0 über die ich nun schon mehrfach selbst berichtet habe (hier und hier). Es scheint so, dass „Entwicklung“ immer in die Richtung von höherer Technisierung und Automatisierung geht. Dabei werden meist zwei Aspekte der Nachhaltigkeit, soziale Verantwortung und Ökologie, zugunsten des dritten Aspekts, der Ökonomie, zurückgedrängt. Wenn alle 3 Aspekte betrachtet würden, dann wären die alternativen Konzepte Lebensmittelkooperativen und CSA – bzw. die Konzepte und Idee, die dahinter stehen – wohl eher vermarktbar. Die Werbeindustrie könnte folglich den Kunden auch wieder Informieren anstatt in derart offensichtlich zu manipulieren.
Natürlich genieße ich es auch oft genug in jedem Supermarkt ein umfassendes Angebot an Bio-Produkten zu finden. Bei aller Kritik halten sie vermutlich noch immer den Vergleich mit konventionellen Produkten stand. Wenn man sich aber einmal an die erwähnten Alternativen gewöhnt hat, dann ist auch deren Nutzung weniger Aufwand, als es im ersten Moment erscheint. Clemens G. Arvay gibt einen Anstoß zum Nachdenken und Handeln. Als KonsumentInnen haben wir es in der Hand, wie mit uns und unserer Umwelt umgegangen wird.
Für meine Bloggerkollegen, die sich in 2 Wochen zum fünften Mal im Rahmen der Biofach treffen könnte dieses Buch ein interessanter Input sein, bevor sie durch die Hallen der „Leitmesse“ gehen und die Produkte begutachten.
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